Persönliche Aufarbeitung der Familiengeschichte
Aufgewachsen am Bauernhof meines Vaters, streifte ich als Kind mit meinem Hund Alfi gerne durch die Natur, musste aber auch bei der Arbeit der Eltern mithelfen. Oben am Waldrand waren noch Schützengräben vom Weltkrieg, dorthin lief ich dann immer, wenn mir die Erwachsenen auf die Nerven gingen. Die Mutter sorgte sich jedes Mal wegen möglicher Granaten, die auch schon öfter explodiert waren. Dahinter lag das große Gut Kyrnberg, das jetzt von der NÖ-Landwirtschaftsschule bewirtschaftet wird und welches uns früher mal gehört hatte. Mein Vater fluchte, dass sich dort die Politiker fette Posten geschaffen hätten, aber sich nicht um die Sorgen der einfachen Leute kümmerten.
Dann, in der Mittelschule in St. Pölten wurde ich als 12-jähriger Schüler eigenartigerweise als „Jud“ diskriminiert und von den Mitschülern gemobbt, was ich überhaupt nicht verstanden hatte. Aus dem Religionsunterricht wusste ich nur, dass die Juden Jesus getötet hätten, aber dafür konnte ich ja nun wirklich nichts …
In den Sommerferien, in Lunz am See, bei meinen Verwandten, der Familie Kupelwieser, war es immer sehr schön. Mein Bruder und ich wanderten mit der Mutter am Berg, ab und zu kam man an verlassenen Hütten vorbei, wo noch verrostete Motorenteile lagerten. Angeblich ließ Hitler seine Panzermotoren über eine Materialseilbahn hinaufbefördern, um sie dort auf die Kälteverträglichkeit der Motoröle prüfen zu lassen. Das war in der Senke des Grünlochs, auf 1300 m, unterhalb des Dürrensteins, wo sich durch Temperaturumkehr in eisigen Winternächten manchmal ein Kältesee bildete, in dem dann minus 50 Grad gemessen wurden …
Das Schloss Seehof in Lunz, wo Mutter noch einen sechstel Anteil besaß, war vornehmer als der Bauernhof, aber die Leute etwas steif und man stritt oft heftig über Finanzen, Schulden und was weiß ich noch. Früher wären sie halt reich gewesen, jetzt sei alles so mühsam. Aus den Kindern aber – also aus uns – sollte dann später jedoch wieder „was“ werden! So begann ich 1968 das obligate Studium in Wien.
Doch dem Zeitgeist entsprechend wurden aus uns bald „linke Hippies“, die sich mehr über den Hunger und die Ungerechtigkeiten in der Welt sorgten und ständig die Professoren beim Unterricht unterbrachen, als große Karrieren anzustreben. So schloss ich mich 1973 dann auch gleich einer „Brigade“ nach Kuba an. Dort arbeiteten wir am Bau einer Landarbeitersiedlung und diskutierten über deren „tropischen Sozialismus“ im Gegensatz zum Neokolonialismus im übrigen Südamerika. Abends schlurften wir Cuba Libre und Daiquiri und tanzten mit den Genossinnen Salsa, Son und Merengue zu afro-kubanischen Rhythmen.
Zurück in Lunz zeigte ich meinem Onkel begeistert die Dias aus Kuba, worauf er mich wütend anschrie, das sei doch eine Diktatur wie damals beim Hitler „und wenn wir dem Gauleiter nicht den halben Grund des gesamten Besitzes „geschenkt“ hätten, dann wären wir gar nicht mehr hier und ich wäre nie auf die Welt gekommen“. Auf meine Frage hin, was denn dem Gauleiter geschenkt worden wäre, murmelte er nur „Na ja.., hmhm , Kyrnberg“. Damals verstand ich das leider noch nicht, aber es ist mir über all die Jahre hinweg im Gedächtnis hängen geblieben.
An der TU Wien studierte ich Raumplanung und wollte sofort danach in die Entwicklungshilfe gehen. 25 Jahre lang war ich in West- und Zentralafrika mit Projekten zu angepasster Technologie, Bewässerung, Waldschutz und Aufforstungsprojekten beschäftigt. Nur ab und zu flog ich in den Urlauben zu den Eltern nach Pyhra. Um das Jahr 2000 herum hatte die österreichische Regierung ein Abkommen mit den USA zur Restitution von noch verbliebenen arisierten Gütern unterzeichnet. Während eines Ausfluges nach Lunz fragte ich meine Mutter, wie die Geschichte mit dem Gauleitern denn damals gewesen sei, aber sie wollte sich nicht äußern. „Man solle nur nicht stirln“. Weiter bedrängen wollte ich sie nicht, ich war ja immer nur kurz zu Besuch.
Anfang 2004 starb sie dann mit 84 Jahren an einer plötzlichen Gehirnblutung. Nach dem Begräbnis, noch ganz in großer Trauer, beim Ausräumen ihrer Möbel, stieß ich zufällig auf eine große Anzahl an Schachteln, voll mit alten Briefen aus der Nazizeit. Sofort hatte sich ein neues Bild ergeben. Ich erfuhr, wie meine Mutter und ihre Geschwister ab 1938 immer wieder nach Berlin fahren mussten, um ihren „rassischen“ Status als „Mischlinge“ aufbessern zu lassen. Mit Personalien über die Herkunft der Ahnen, Fotos für eine Gesichtsvermessung, Interventionen befreundeter Wissenschaftler und Mittelsmänner – um so eine sich immer drohender ankündigende Deportation abzuwenden. Auch fand ich Unterlagen darüber, dass das Gut in Lunz an den Gauleiter „verkauft“ werden sollte, um Schulden tilgen zu können, und dass dieser Interesse daran gezeigt hatte. Seltsam war nur die Tatsache, dass eine Tilgung der Schulden nie stattgefunden hatte, denn das andere Lunzer Gut hatte ja noch bis lange nach dem Krieg mit großen Schulden zu kämpfen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, saß ich während meiner Urlaube tagelang am Grundbuch und im Landesarchiv St. Pölten. Die dortigen Mitarbeiter unterstützen meine Suche, es waren aber sehr viele Dokumente verschwunden und nicht mehr auffindbar. 2005 schickte ich eine Darstellung all der dokumentierten Geschehnisse an den Entschädigungsfond der Regierung.
Es ließ mir keine Ruhe und ich recherchierte weiter. 2010 fand ich dann in Lunz, in einem alten Bienenhaus der Familie Ruttner (Prof. Ruttner war der damaligen Leiter der biologischen Station), eine Mappe mit Korrespondenzen mit Nazi-Behörden. Es ging um das Problem der Abstammung der Kupelwieser Kinder (also auch meiner Mutter), für die der Professor nach dem Tode ihres Vaters Hans Kupelwieser (meines Großvaters) als Vormund fungiert hatte. Auch diese Dokumente reichte ich nach.
Jahre später bekam ich die Antwort, dass mein Antrag auf Entschädigung abgelehnt wurde. Man ging zwar auf 120 Seiten anscheinend auf einige, aber nicht alle Argumente ein, bemängelte jedoch, dass es eben keinen eindeutigen Beweis für eine, wenn auch nur versteckte Enteignung, gäbe. Man meinte, ich hätte selber dafür zu sorgen, dass alle verjährten oder vernichteten Unterlagen und Belege über eventuell nicht erfolgte Zahlungen eingebracht würden. Dass, auch im Gegensatz zu früheren Prozessen, die „Beweislastumkehr“ hier nicht gelten würde. Und man verwies darauf, dass der Gauleiter als Beamter des „strengen“ Nazi-Regimes – unter Ausnutzung der antisemitischen Bedrängnis der Familie Kupelwieser infolge ihrer jüdischen Wurzeln – gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich das Gut mit einem vorgetäuschten und unter Zwang abgeschlossenen Kaufvertrag persönlich einzuverleiben. Na ja.
Ich fühlte mich gedemütigt, aber dagegen gab es kein Rechtsmittel, keine Möglichkeit auch nur irgendwie in Berufung zu gehen. Ebenso wurde ein zweiter Antrag, den ich mit Hilfe eines renommierten Historikers aus Wieselburg, der alles nochmals und viel genauer recherchiert hatte, einreichte, aus formalen Gründen abgelehnt.
All diese Recherchen einfach ad acta zu legen ist für mich nicht in Frage gekommen. So entschied ich mich, ein Buch darüber zu schreiben. 6 Verlage erteilten mir eine Absage. Dann stieß ich auf einen burgenländischen Verlag für Neuautoren, Novum, der aber im Vorfeld eine Finanzierung von mir verlangte. Nach einiger Zeit kontaktierten sie mich jedoch abermals und boten mir eine kostenlose Version an, da sie von der EU eine Förderung für solche ganz besonders interessante Geschichten bekommen hatten. Das hatte der damalige Bundeskanzler Schüssel ermöglicht, indem er dem Verlag einen Preis für das beste „Start-Up“ Unternehmen im Burgenland verliehen hatte. Diese EU geförderte Schiene nannte sich dann „United PC“.
In der Zwischenzeit hatten sich auch in Lunz interessante Kontakte ergeben. Dr. Maria Leichtfried kopierte mir alte Fotos aus der biologische Station, wo sie und ihr Mann Arnold früher gearbeitet hatten. Über das Internet lernte ich Dr. Hella Buchner-Kopper, eine weit entfernte Cousine kennen, die im Jahr 2000 an der Uni Klagenfurt eine Dissertation über den Maler Maximilian Lenz, der mit meiner Großtante Ida Lenz-Kupelwieser verheiratet gewesen war, verfasst hatte. Auch besuchte ich die Insel Brioni in Kroatien, die mein Urgroßonkel Paul Kupelwieser entwickelt hatte, welche später von Mussolini beschlagnahmt worden war. Dort konnte ich mit der zuständigen Archäologin Dr. Mira Pavletic, noch viele Dossiers und Fotos austauschen. Auch meine französischen Verwandten aus der ehemals jüdischen Familie der Gorodetzkys aus Chişinău in Moldawien, deren Großeltern 1904 nach den Pogromen aus Russland über Pyhra nach Paris ausgewandert waren, und die später oft nach Lunz zu Besuch kamen, kopierten mir Fotos und Berichte aus eigenen Beständen. Darunter die Geschichte der Ermordung des Bruders meiner Großmutter, Boris Gorodetzky, der 1942 aus Berlin nach Riga deportiert worden war. Diese meine Großmutter, Polya Kupelwieser, die 1956 starb und die ich sehr geliebt hatte, kam aus jener Mischpoke und hatte 1903 meinen Großvater Hans geheiratet. Sie hatte die Nazizeit nur mit viel Glück und beschützt von guten Freunden überlebt. Hans starb 1939 wegen der Diskriminierung der Familie und den ganzen Sorgen an Herzinfarkt. Ihr Erbe hatte sie dann gleich vorsichtshalber sofort an ihre Kinder übertragen. Auch eine andere entfernte Cousine aus der Familie Mautner Markhof, Christiana Schönborn-Buchheim, die 2018 leider verstarb, erzählte mir viel über ihre Kindheit in Brioni und zeigte großes Interesse an meinen Nachforschungen, obwohl auch in ihrer Familie nicht gerne darüber gesprochen worden war. Somit verfügte ich über ganz viel an Material, das nur darauf wartete, veröffentlicht zu werden.
Im Februar 2016 wurde die erste Auflage meines Buches vom „Aktionsradius Wien“ in der Arena Bar mit einer Lesung vorgestellt.
Ein weiterer Kontakt ergab sich zu Yvonne Illich aus Boston. Auch sie war eine, von ungerechten Entscheidungen Betroffene. Yvonne ist Nichte des berühmten kirchenkritischen Priesters und Pädagogen Ivan Illich. Ursprünglich aus Kroatien stammend, war seine Familie nach Wien gezogen, musste aber dann 1938, auf der Flucht vor den Nazis, ihre luxuriöse Villa Regenstreif in Pötzleinsdorf zurücklassen. Illich war über Italien nach Mexiko geflohen, wo er dann als Professor und Systemkritiker Ruhm erlangte. Auch Yvonnes Fall war von der engagierten Filmemacherin Burgl Czeitschner in ihrem Film „Let’s keep it“ thematisiert worden. Sie bekam von mir dann einige Exemplare der englischen Version meines Buches, eines davon deponierte sie im US Holocaust Memorial Museum in Washington.
Ich hatte mich bereits 2017 dazu entschieden, das Buch in Englisch herauszubringen. Ein erster Entwurf, den ich mit Hilfe einer Google Übersetzung erstellt hatte, wurde dank der freundlichen Unterstützung der pensionierten Biologin Dr. Mary Morris aus Ascot bei London, die zuvor 7 Jahre lang an der biologischen Station in Lunz gearbeitet hatte, gegen einen bescheidenen Energieausgleich für native English adaptiert und ebenfalls von meinem Verlag herausgebracht. Danach schickte ich die deutsche und englische Version zum Holocaust Memorial in Jerusalem nach Yad Vashem, wo man mich zu einem Besuch einlud, den ich erst 2019 antreten konnte.
Im Jänner 2018 war ich mit Unterstützung des Österreichischen Kulturforums zu einer Lesung von Secret Nazi Cold Test Station in die Wiener Holocaust Library nach London eingeladen worden. Frau Susan Antscherl hat diese mit ihrer viel besseren Aussprache für mich übernommen. Ihr Mann, Fred Antscherl, war 1938 als Kind zu einem bereits zuvor geflüchteten Onkel nach London gekommen. Seine Familie, jüdische Besitzer eines Sportgeschäftes in Scheibbs, waren deportiert und ermordet worden. Im Anschluss an die Lesung kam es noch zu einer lebhaften Diskussion.
2019, auf meiner Reise nach Israel, ergab sich ein Kontakt mit der Anwältin Martha Raviv, die als Kind mit ihrer Mutter mehrere Konzentrationslager überlebt hatte. Sie und andere Anwaltskollegen, darunter Doron Weissbrod, den auch Yvonne Illich kannte, beschäftigten sich mit der Erforschung noch ungeregelter Arisierungen in Österreich (The committee for equitable Holocaust property loss) und verfassten 2010 einen Brief an den damaligen Außenminister Spindelegger. Sie argumentierten, dass das gesamte nicht restituierte jüdische Eigentum mehrere Milliarden US-Dollar ausmache und nicht nur mit den vorgesehenen 210 Millionen Dollar kompensiert werden könnte! Leider blieben sie damit erfolglos.
Auch in Niederösterreich hat mein Buch, sowohl im Raum Pyhra, als auch in Lunz, Scheibbs etc., viel Anklang gefunden. Viele ältere Bewohner haben mich darauf angesprochen. Sogar einige Klassenkameraden aus St. Pölten hatten es gelesen und zeigten sich rückblickend über die Szenen aus der Schulzeit betroffen – wobei man aber übereinstimmt, dass das eben der damalige Zeitgeist war und wir als Kinder die Hintergründe noch gar nicht verstehen konnten.
So schließt sich der Kreis meiner Kindheit und Jugend. Viele Fragen bleiben offen, weil durch vollkommen unnötige Schuldgefühle, Scham und einer leider noch sehr unsensiblen beharrlichen Verwaltung niemand an einer wirklichen Aufarbeitung interessiert ist.
Über mein Leben wurde ich im City und Campus Radio der FH St. Pölten ausführlich interviewt.